HAMBURGER KNEIPENCHOR
Nachtleben Nach Berliner Vorbild formiert sich der erste Hamburger Kneipenchor und singt sich in Rage, bis die Kehlen wieder befeuchtet werden müssen.
Christian Sondermann sitzt neben einer Oma-Stehlampe an seinem Keyboard. In einem Halbkreis stehen vor ihm gut zwei Dutzend gut gelaunte Anfang 20- bis Ende 30-Jährige mit Nerd-Brille, Schiebermütze oder Blümchenrock. Einigen merkt man die Nervosität deutlich an. Auf Retro-Sofas türmen sich dicke Winterjacken in die Höhe. Die Sängerinnen und Sänger haben ihre Bierflaschen auf Beistelltischen abgestellt.
„Katy Perry – Teenage Dream“ steht auf den Notenblättern geschrieben. Kein typisches Chorstück, schon klar. Aber schließlich ist das hier auch kein normaler Chor. Christian haut in die Tasten und das Kollektiv schmettert die erste Strophe des Popsongs durch die Halle. „Ist das der Tenor? Cool!“, sprudelt es aus ihm heraus.
Nicht der Musikwissenschaftler und Komponist Christian Sondermann, sondern Hilke Cordes (28) rief den Hamburger Kneipenchor ins Leben, nachdem sie ein ähnliches Kollektiv in Berlin entdeckte. „Ich fand die Idee super, habe mir Youtube-Videos der Berliner angeschaut und schließlich meinen Plan bei Facebook gepostet.“ Auch Christian war sofort Feuer und Flamme und stieg als musikalischer Leiter ins Projekt ein. Die Reaktionen auf die Gründung waren überwältigend. „Wir können mittlerweile nur noch Männerstimmen aufnehmen“, so die Chormutter, die tagsüber als PR-Managerin arbeitet.
Seit Anfang Februar probt der Kneipenchor jeden Dienstag in den Räumlichkeiten des Kolbenhofs in Ottensen. Auf dem riesigen Gelände des 2009 geschlossenen Werkes siedelte sich hier und da Gewerbe an. Das Kurzfilmfest pachtete eine der Hallen und stellt sie dem Kneipenchor zur Verfügung. Viele der Leute, die für die Probe eintrudeln, kommen aus der Kreativbranche. Einige haben schon erste Chor-Erfahrungen, aber keine Lust auf elitäre Truppen und surfen nun auf der Welle ungezwungener Sangeslust. „Wir sind schließlich die Generation Singstar und lieben es, auf WG-Partys gemeinsam Lieder zu schmettern“, wirft Claudia Cassens, 33, Personalerin, ein.
Wer beim Kneipenchor mitmacht, ist Teil eines Experimentes. Der Spaß steht klar im Vordergrund, trotzdem geht es in der Probe erstaunlich strukturiert zu. Auch die männlichen Vertreter gewöhnen sich langsam an Text und Noten. Chris Hackenberg erzählt: „Ich hab schon in ganz schlechten Pseudo-Hardrock-Punkbands gespielt. Aber das war anders. Da stand ein Mikro für alle zum Reingrölen in der Mitte.“ Nach der Probenpause arbeitet die Gruppe weiter am großen „Kate Perry“-Finale. „Vierstimmig a cappella“, verkündet Christian am Keyboard. „Deshalb dürfen die Damen nur so viel trinken, dass sie noch vierstimmig singen können.“
Das Ergebnis kann sich hören lassen. Beim ersten öffentlichen Auftritt bei der Clubkinder-Tagebuchlesung im April schallten Zugabe-Rufe durchs Kulturhaus 73. Dass gelegentlich Stimmen aus der Reihe tanzen, störte hier niemanden und sorgte beim Chor eher für Erheiterung. So werden wir die Jungs und Mädels hoffentlich schon bald in Hamburgs Kneipen bei einer ihrer spontanen Flashmob-Touren begegnen – und „Teenage Dream“ mitgrölen können.