Chelsea Wolfe – Schlafes Schwester
Es geht abwärts, oder genauer: Ins Innere. Auf Abyss, dem neuen Album der kalifornischen Singer-Songwriterin, tun sich Schlünde und Höllenklüfte auf. Dort unten lauern jedoch weniger Einsichten ins Innenleben der Künstlerin als erwartet.
»Da war es mir, als ob der Boden im wörtlichen Sinne unter mir nachgäbe, und als ob ich in eine dunkle Tiefe sauste. Ich konnte mich eines Gefühls von Panik nicht erwehren.« Eine traumähnliche Vision, die der Schweizer Psychiater Carl Gustav Jung in seiner Autobiografie Erinnerungen, Träume, Gedanken kurz vor seinem Tod niedergeschrieben hat, setzt den Anfangspunkt für Abyss. Nachdem ihr das Buch in die Hände fiel, habe das Traumbild vom Fallen sie nicht mehr losgelassen, erzählt Chelsea Wolfe, und schon die Trackliste mit Songs wie »Maw«, »After The Fall« und schließlich »The Abyss« deuten in Richtung Erdmittelpunkt. Wie Jung ist auch Wolfe von der surrealen Bildsprache ihrer eigenen Träume und dem schöpferischen Ideenfundus des menschlichen Unterbewusstseins fasziniert. Schlafstörungen und irritierende Traum-Wach-Situationen begleiten sie schon ihr ganzes Leben lang. »Das Gefühl, wenn man aufwacht, irgendwann wieder einschläft und den gleichen Traum weiterträumt – das hat mich schon immer beschäftigt«, sagt sie. Dieses relativ weit verbreitete Phänomen, das mit ein wenig Übung einen luziden Traum zur Folge haben kann, beschreibt einen für das gesamte Album charakteristischen Schwebezustand zwischen Schlaf und Wachsein.
Auch wenn das Interview mit der 31-Jährigen wunschgemäß um eins in der kalifornischen Nacht stattfindet, möchte Wolfe sich ungern als Nachtmensch bezeichnen lassen. Dann schon eher als Pragmatikerin. Es sei bestimmten Phasen und äußeren Umständen geschuldet, ob sie eher am Tage oder nachts arbeite, je nachdem, ob sie sich auf Tour befinde oder zu Hause, lautet die lapidare Antwort auf die entsprechende Frage. Vielleicht ist es ihr inzwischen fad geworden, das Klischee von der tageslichtscheuen Schauerromantikerin allzu deutlich zu illustrieren. Introvertiertheit und Weltschmerz hingegen trägt sie weiterhin offensiv zur Schau wie ein schönes Accessoire: »Das Album handelt vielfach von Frustrationen über den Zustand der Welt. Ich bin eine eher zurückhaltende Person und fand es immer schwierig, meine Meinung vor einer Gruppe Menschen zu äußern. Die Musik ermöglicht es mir, das alles rauszulassen. Viele meiner Songs drücken das aus, wofür ich im normalen Leben nicht die passenden Worte finde.«
Textlichen Input lieferten beispielsweise die Gedichte von Xu Lizhi, einem Arbeiter in einer chinesischen Foxconn-Fabrik, der sich 2014 selbst tötete. Bei dem weltweit größten Elektro- und Computerteile-Hersteller war es bereits 2010 zu einigen Suiziden unter den Arbeitern gekommen, die in Medienberichten auf die unmenschlichen Arbeitsbedingungen zurückgeführt wurden. »Diese Frustration, diese Verzweiflung, die aus seinen Gedichten spricht – das hat mich sehr inspiriert. Es war mir wichtig, ihm eine Stimme zu geben und seine Geschichte am Ende doch noch in etwas Schönes zu verwandeln.«
Es liegt nahe, beim Thema Träume auch den großen Bruder des Schlafs einzubeziehen, ist doch das Morbide für Chelsea Wolfe immer schon identitätsstiftendes Element gewesen. Auf Abyss widmet sie sich vor allem dem Leben nach dem Tod. Durch das gesamte Album ziehen sich Referenzen zu übernatürlichen, jenseitigen Energien, die Wolfe in Ermangelung eines passenden Begriffs als »Geister« bezeichnet. »Ich glaube schon an irgendeine Form von Weiterführung. Wenn ich über meine Träume nachdenke, passt das zu meiner Idee, wie das Jenseits aussehen könnte.«
Abyss sei ihr bisher persönlichstes Werk, munkelte man verheißungsvoll in einer ersten Ankündigung des Albums. Darauf angesprochen, antwortet Wolfe zurückhaltend und verweist auf die besonderen, beinahe familiären Aufnahmebedingungen in Texas unter der Regie von John Congleton. Sie sei mehr noch als früher in alle Arbeitsschritte involviert gewesen und habe bei der Auswahl der Musiker alte Bekannte zusammengetrommelt: den Multiinstrumentalisten Ben Chisholm, den Streicher Ezra Buchla und Dylan Fujioka am Schlagzeug sowie den Gitarristen Mike Sullivan von Russian Circles. Überhaupt ist Abyss ein Gitarrenalbum geworden. Nach der Tour mit Queens Of The Stone Age im Frühjahr 2014 habe sie beschlossen, ein paar Stücke zu schreiben »mit harten Gitarren, die live Spaß machen«. Neben dem elektronischen Vorgänger Pain Is Beauty wirken die neuen Songs umso bombastischer. Die Laut-leise-Dynamik erweckt Traumbilder vom freiem Fall ins Ungewisse und öffnet gleichermaßen kathedralenartige Gewölbe unter der Erde. Sie konnte ihr Faible für Dramatik richtig ausleben, erzählt Wolfe und wundert sich nicht über Assoziationen zur raumfüllenden Üppigkeit einer Oper.
Von Annika Reith / Spex